2005-02-25

Die Zeit porträt die Internet-Aktivistin Yin Lichuan: Ihr Auftreten ist so einzigartig wie zukunftsweisend. Sie paart die Rebellion gegen westliche Einflüsse mit einem sanften Eintreten für mehr Demokratie und Gerechtigkeit. Dabei widersteht sie Zensur und Schikane der regierenden Kommunisten. Sie tritt selbstbewusst für chinesische Traditionen ein und nutzt dafür die modernsten Kommunikationsformen des Internets. Kurzum, Yin Lichuan ist Bannerträgerin einer neuen Pekinger Intellektuellengeneration. ... Yin Lichuan raucht viele Zigaretten der Marke Huangguo Shu und trinkt viel grünen Tee. Nebenbei bestückt sie ihr Internet-Tagebuch, ihr Blog. Auf www.blogcn.com sendet sie Gedichte, Alltagsgeschichten, Reiseberichte, Rezensionen in die Welt. Außerdem sind auf der Seite die Kommentare ihrer Leser abrufbar. Sie findet das Blogging prima, hat sich beim Schreiben noch nie so frei gefühlt wie heute. ... An diesem Abend trifft sie Shen Haobo, einen drei Jahre jüngeren Dichter, der als Erster den Begriff von der »Unterleib-Poesie« prägte. Shen hat ihr vor ein paar Tagen seine Memoiren des vergangenen Jahres per Blog-Mail übersandt. »War es im März«, schreibt Shen, »als wir diesen Appell lancierten?« Tatsächlich weiß jeder Schriftsteller in China, dass Yin und Shen im letzten März einen mutigen Appell zur Freilassung zweier zu zwölf und elf Jahren Haft verurteilter Journalisten ins Netz stellten. 7000 Unterschriften sammelten sie für Yu Huafeng und Li Minying, die entscheidend zur Aufklärung über die Sars-Epidemie im Jahr 2003 beigetragen hatten, bis auch hier die Internet-Polizei zugriff und den Aufruf löschte. Shens Verleger wurde anschließend bestraft, sein neues Buch eingestampft. Ihr stellten die Sicherheitsbehörden ebenfalls nach. Sie hatte Angst. Sie brach den Kontakt mit ihren Verlegern ab – aus Vorsicht. Einmal ausgesprochen, ist ein Publikationsverbot schwer rückgängig zu machen. Sie wagte monatelang nichts zu veröffentlichen, bis sie mit ihrer Arbeit am Internet-Tagebuch begann. Gezwungenermaßen, ja, gibt sie jetzt zu. Aber Verzweiflung wäre ihr auch damals nicht in den Sinn gekommen. »Die Empörung gegen die Ungerechtigkeit gibt es schon in unseren ältesten Romanen«, meint Yin. So, und nicht als Systemkritik, will sie ihren Appell verstanden wissen.

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